Kinderschutz und Kinderrechte: ein Interview mit Prof. Dr. Jörg Maywald
Prof. Dr. Jörg Maywald geboren 1955, Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik in Berlin, Amsterdam und Paris, ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums. Von 1995 bis 2021 war er Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind. Seit 2002 ist er Sprecher der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, seit 2011 Honorarprofessor für Kinderrechte und Kinderschutz an der Fachhochschule Potsdam.
Im Rahmen des KJF-Fachtags am 08. Juli hielt er einen Vortrag zum Thema „Kinderschutz und Kinderrechte“, in dessen Anschluss er für ein Interview bereitstand.
Lieber Herr Prof. Maywald, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihren inspirierenden Vortrag! In Ihrem Vortrag behandelten Sie u. a. das Verständnis von Kinderrechten und Kinderschutz im Wandel der Zeit.
Wo sehen Sie wesentliche Unterschiede zu Relevanz und Inhalten im Vergleich zu der Zeit vor 100 Jahren?
Natürlich liegen wesentliche Unterschiede im Verständnis von Kindheit und dem Wissen um Bindung und Prägung im Heranwachsen. Der hauptsächliche Unterschied liegt meinem Verständnis nach in der Beteiligung der Personen, um die es geht: Kinder und Jugendliche. Sie werden nicht mehr als Objekte behandelt, über die gesprochen, bestimmt/verfügt wird, sondern als eigenständige Subjekte angesehen. Sie können für sich selbst einstehen und finden Beachtung in ihren Bedürfnissen.
Sie sprechen von einer Trias aus Schutz, Förderung und Beteiligung. Man könnte sie auch als die drei Säulen bezeichnen, die die Kinderrechte tragen.
Stichwort Beteiligung – wo beginnt Beteiligung?
Der erste Schritt ist das Bewusstsein darüber, dass Kinder ein Recht darauf haben, ihre eigenen Rechte zu kennen.
Beteiligung kann von Geburt an stattfinden. Solange keine Sprache zur Beschwerde oder zum Ausdruck von Bedürfnissen genutzt werden kann, findet die Kommunikation durch Laute oder nonverbal statt. Die Signale müssen dann von den Erwachsenen interpretiert werden.
Erwachsene nehmen außerdem eine Vorbildfunktion ein – sowohl im Umgang als auch in der eigenen Interaktion. Das Vermitteln einer positiven Fehlerkultur sowie das Vermeiden eines Klimas des Misstrauens sind wesentlich. Kinder lernen viel aus der Beobachtung und nehmen die Wirkungen von Handlungen gut wahr.
Beteiligung reicht im weiteren Heranwachsen z. B. über das Wahlrecht im Allgemeinen zu Rechten für Intersexuelle oder aber auch Geflüchtete oder pflegebedürftige Personen im Spezielleren.
Eine wichtige Orientierung bietet auch der Leitsatz „Nicht auf die Kosten von anderen“.
Je älter Kinder (und Jugendliche) werden, desto ausdifferenzierter werden Beteiligungsstrukturen und -möglichkeiten.
Zur Beteiligung gehört auch die Beschwerde. Haben Sie Anregungen, Tipps oder Handlungsempfehlungen dazu, um Instrumente zum Beschwerdemanagement zu gestalten?
Hier greife ich das Recht der Kinder auf, ihre eigenen Rechte zu kennen. Grundlage sind Menschenrechtsbildung und Kinderrechtsbildung, aber losgelöst von erlerntem wissen auch die Erfahrung, ernst genommen zu werden – „ich kann etwas bewirken und meine Bedürfnisse werden nicht ignoriert.“
Bei Beschwerden unterscheide ich zwischen einer Verhinderungsbeschwerde und einer Ermöglichungsbeschwerde. Bei der Verhinderungsbeschwerde äußere ich mich, um bspw. ein Verhalten mit gegenüber zu unterbinden, das ich nicht mag/ das mich abwertet. Mit einer Ermöglichungsbeschwerde zeige ich zwar einen Missstand, aber auch eine Lösung auf (Verbesserung).
Ich möchte die Entwicklung vom Kind als Objekt hin zum Kind als Subjekt der vergangenen Jahrzehnte noch einmal aufgreifen.
Wie unterstützen und fördern wir diese Haltung tagtäglich?
Wie implementieren wir das Thema Kinderschutz und Kinderrechte immer und immer wieder aufs Neue in unseren (Kita-)Alltag?
Sie formulieren es schon ganz richtig: „immer und immer wieder aufs Neue“. Denn es handelt sich um einen dynamischen Prozess, eine stetige (Weiter-)Entwicklung. Ich möchte mich des Begriffes eines Kollegen bedienen und an dieser Stelle den „Kinderrechtsprozess“ statt des „Kinderrechtskonzepts“ anführen. Meiner Meinung nach lautet auch hier das Stichwort „Beteiligung“ – Beteiligung auf allen Ebenen, angefangen an der Basis.
Die Kernfrage im Prozess lautet: wie gestalte ich das Verhältnis zum Kind?
„Dialog auf Augenhöhe“ vs. „Kinder nicht als kleine Erwachsene behandeln“ – wo liegt der Unterschied?
Der Dialog auf Augenhöhe gründet auf der Annahme der Gleichheit: wie sind alle Menschen und alle gleich; egal, ob Kind oder Erwachsener. Die Verschiedenheit aber liegt in den Parametern Verantwortung und Macht. Beides entsteht aus Erfahrung und Wissen heraus. Als Erwachsener greife ich ein, wenn ein Kind sich durch seinen Willen oder sein Handeln selbst gefährden würde, d. h. dass nicht in jedem Fall der Wille des Kindes ausschlaggebend ist.
Sie sprechen vom „Kinderrechtsbasierter Kinderschutz“. Die rechtliche Grundlage lässt erahnen, dass es sich um ein hoch-politisches Thema handelt.
Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode darauf verständigt, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Für die geplante Grundgesetzänderung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat erforderlich.
Wie argumentieren die Pro- und die Contra-Position?
Pro ist auf jeden Fall die Erweiterung der Beteiligungs-Möglichkeiten, hieraus resultierende Stärkung von Kindern, Jugendlichen und Familien und die rechtliche Absicherung des Kindeswohls. Kinder und Jugendliche rücken in anderen Kontexten immer weiter in den Fokus (Gesellschaft und Forschung z. B.), sodass sie auch im Grundgesetzt Beachtung finden sollten. Vor allem für benachteiligte Kinder eine Chance auf Verbesserung!
Contra wird häufig damit argumentiert, dass Kinderrecht bereits durch die Menschenrechte abgedeckt seine, da Kinder ja auch Menschen sind. Letzterer Formulierung schließe ich mich ab, aber sehen Sie hierzu auch meine Antwort vorhin. Wir sind alle Menschen, aber wir unterscheiden uns auch in Verantwortung, Macht, Erfahrungen etc. Wir erleben nicht alle gleich bzw. nicht aus der Position der Kinder heraus. Bildung ist hierbei z. B. ein wichtiger Aspekt – wie wollen Kinder lernen?
Die Contra-Position sieht eine Schwächung der elterlichen Rechte, wenn Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden: Wie weit gehen Kinderrechte? Welchen Einfluss haben die Eltern dann noch? Welchen Einfluss nimmt der Statt in Familien?
Durch welche Hauptprobleme werden Kinder benachteiligt?
Die Hauptprobleme in Deutschland in dieser Hinsicht sind Bildung, Armut und Gesundheit, wobei zwischen den dreien sehr häufig ein (negativer) Zusammenhang besteht.
Sie arbeiten sehr praxisnah – wie positionieren Sie sich zwischen Politik, Wissenschaft und Praxis?
Ich sehe mich in einer Vermittlerrolle.
Inwieweit ist die Praxis im politischen Diskurs vertreten?
Ein komplexes Thema.
Aber eine gute Nachricht: die Praxis ist immer öfter und präsenter vertreten.
Als Vertragsstaat der UN-Kinderrechtskonvention ist die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, in einem regelmäßigen Turnus Berichte über die Kinderrechte im eigenen Land vorzulegen, die Aufschluss darüber geben, inwiefern sie ihrer Verpflichtung zum Kinderschutz nachgekommen ist. Zunächst wurde hierzu vor einigen Jahren eine kindgerechte Fassung erstellt, heute ergänzt der Kinder- und Jugendbericht sogar den Staatenbericht.
Im September wird die Bundesregierung in Genf mit dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes über die Situation von Kindern sowie die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland beraten. Die National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtsorganisation, deren Sprecher ich bin, wird begleiten. Die National Coalition Deutschland ergänzt den Bericht der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den über 100 Organisationen in ihrem Netzwerk.
(Hinweis: Hier finden Sie den fünften und sechsten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes)